KÖNIG ADVENTUS UND DIE VERLORENE WEIHNACHTSGESCHICHTE
Herbert Adam, Bischöfliches Ordinariat
Der Stall: König Adventus lebte schon seit vielen Jahren froh und glücklich in seinem Königreich Adventinien. Er liebte es, mit seiner Krone auf dem Kopf durch sein Schloss zu stolzieren und sich bewundern zu lassen. Bei seinem Volk war er beliebt, denn in Adventinien gab es nur wenig Steuern, dafür aber viele Feiertage. Auch seine Ministerinnen und Minister wären völlig zufrieden gewesen, wenn der König in der Advents- und Weihnachtszeit nicht so eigensinnige Wünsche gehabt hätte. Jedes Jahr kamen ihm irgendwelche verrückte Ideen:
Einmal wollte er einen Adventskranz, der so riesengroß sein sollte, dass er rund um das ganze Schloss ging. Mehrere Wochen mussten die königlichen Wald-arbeiter und Gärtner Tannenzweige herbeischleppen und zu einem Kranz binden. Die Kerzen waren mächtig wie Baumstämme, und die Dochte waren so dick wie Schiffstaue. In einem anderen Jahr hatte er sich in den Kopf gesetzt, alle 2424 Tannenbäume im königlichen Wald sollten zu Weihnachtsbäumen werden. So blieb den Dienerinnen und Dienern im Schloss nichts anderes übrig, als unzählige Sterne und Weihnachtskugeln zu basteln und Tausende von Kerzen zu kaufen. Im Jahr darauf wollte der König einen riesigen Adventskalender haben, in dem richtige Menschen saßen. Wenn man die Türen öffnete, mussten sie für Adventus singen, spielen, tanzen oder Gedichte aufsagen.
„Was wird ihm wohl dieses Jahr wieder einfallen?“, stöhnten die Minister. „Am Ende sollen wir ein neues Königsschloss aus Lebkuchen und Marzipan für ihn bauen!“
Aber in diesem Jahr kam alles ganz anders. Der Advent hatte begonnen und kein außergewöhnlicher Befehl war zu hören. Es gab einen kleinen Adventskranz und einen gewöhnlichen Adventskalender, gefüllt mit hübschen Bildern und Schokolade. Die königliche Köchin produzierte die übliche Menge an königlichen Adventsplätzchen und Pfefferkuchenhäusern.
Keiner wagte den König auf das Thema „Weihnachten“ anzusprechen, bis es schließlich der oberste Minister nicht mehr aushielt, zum König ging und fragte: „Eure Majestät, habt Ihr denn keinen besonderen Wunsch für dieses Weihnachtsfest?“ Adventus überlegte kurz und antwortete: „Na, wenn Ihr mich so fragt, dann erzählt mir bitte am Heiligen Abend die Weihnachtsgeschichte, die echte, so wie sie mir meine Mutter erzählt hat, als ich noch klein war!“
„Das kann doch wirklich nicht so schwer sein!“, dachte sich der oberste Minister. „Die Weihnachtsgeschichte kennt man doch. Die hat jeder irgendwann einmal gehört.“ Aber das war ein Irrtum. Er fragte seine Kollegen, den Post- und Verkehrsminister und alle anderen Ministerinnen und Minister. Es kamen auch jede Menge Geschichten zu Tage - aber welche davon war denn die echte Weihnachtsgeschichte?
„Lieber Herr König Adventus,“ flüsterte der oberste Minister etwas verlegen. „Wir haben da ein kleines Problem! Wir kennen viele Weihnachtsgeschichten, aber niemand weiß, welches die echte ist! Könnten Sie uns vielleicht sagen, welche Erzählung Sie meinen?“. Nun mussten die Ministerinnen und Minister einer nach dem andern vor den König treten und ihre Weihnachtsgeschichten vortragen.
Der Reiseminister fing an: „Ganz weit oben im schneebedeckten Norden, zwischen all seinen Rentieren lebte der Weihnachtsmann ...“. - „Weihnachtsmann“, unterbrach König Adventus, „Weih-nachts-mann! Der kommt in der richtigen Weihnachtsgeschichte überhaupt nicht vor! Den haben sich einige Leute nur ausgedacht. Davon will ich nichts hören. Erzählt mir bitte die richtige Weih-nachtsgeschichte, die echte!“
Die Wald- und Wiesenministerin begann ganz salbungsvoll mit der Überschrift: „Weihnachtsbaum“. - „Du brauchst gar nicht erst damit anzufangen! Ein Weihnachtsbaum ist zwar sehr schön. Den wollen wir auch schmücken, aber er gehört nicht in die Weihnachtsgeschichte. Da hat er überhaupt nichts zu suchen!“
Als der Postminister etwas über den „Weihnachtsbrief“ oder das „Weihnachts-paket“ erzählen wollte, wurde Adventus richtig zornig: „Kennt denn keiner mehr in meinem Reich die richtige Weihnachtsgeschichte? Eine Schande ist das!“
Auch für die Geschichten vom „Weihnachtskuchen“, vom „Weihnachtszug“, vom „Weihnachtsbratapfel“, von den „Weihnachtsschuhen“ und von den „Weihnachts-heinzelmännchen“ interessierte sich der König überhaupt nicht.
Plötzlich gab es im Hof ein fürchterliches Geschrei. Die Köchin schimpfte mit der Küchenmagd und dem Laufburschen: „Du dummer Ochse! Du blöde Eselin! Ihr seid schon wieder zu spät zur Arbeit gekommen! Wir haben noch so viel zu tun vor dem Fest. Schon dreieinhalb Minuten warte ich auf euch. Wenn das so weitergeht, dann lass ich euch diese Nacht im Stall übernachten bei Ochs und Esel!
Das hörte der König und rief hocherfreut; „Ja! Das ist es! Ein Stall! Ein Stall! Der kommt in der Geschichte vor! Ein Ochse und ein Esel, die dürfen von mir aus auch dabei sein. Das habe ich auf alten Bildern gesehen! Erzählt mir die Weihnachtsgeschichte, in der ein Stall vorkommt! – Das ist die richtige!“